Pflegekinderrecht-Blog

Neulich bei den Pflegeeltern

Rechtsanwalt Matthias Westerholt aus Bremen informiert

I. Problemstellung

Wenn ein Kind in einer Pflegefamilie untergebracht ist, kann sich nach einer gewissen Zeit, insbesondere aufgrund einer Veränderung von Umständen, die zuvor die Unterbringung notwendig gemacht haben, die Frage stellen, ob eine Rückführung in die Ursprungsfamilie, also zu den leiblichen Eltern des Kindes möglich ist.

Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Voraussetzungen vorliegen müssen, damit sich eine solche Rückführung realisieren lässt.

II. Gesetzliche Ausgangslage

Die zentrale gesetzliche Regelung zur Rückführung eines Pflegekindes in seine Ursprungsfamilie stellt § 1632 Abs. 4 BGB dar. Dort wird zwar nicht ausdrücklich festgelegt, in welchen Fällen eine Rückführung stattfinden kann. Umgekehrt ergibt sich aber aus der Vorschrift, unter welchen Voraussetzungen die Pflegeeltern eine Verbleibensanordnung erwirken können.

Danach kann das Familiengericht, wenn das Kind seit längerer Zeit in Familienpflege lebt und die Eltern das Kind von der Pflegeperson wegnehmen wollen, von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson anordnen, dass das Kind bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet würde.

Die Vorschrift dient dem Schutz der Pflegekinder. Sie sollen gegen eine Herausnahme aus dem Pflegeverhältnis geschützt werden, wenn sie den leiblichen Eltern entfremdet sind und in der Pflegefamilie eine Bezugswelt gefunden haben, deren Auflösung das persönliche, insbesondere das seelische Kindeswohl gefährden würde (vgl. BT-Drs. 8/2788 S. 40; OLG Koblenz FamRZ 2005, 1923).

 

III. Voraussetzungen des § 1632 Abs. 4 BGB

Folgende Voraussetzungen müssen vorliegen, damit eine Verbleibensanordnung getroffen werden kann. Im Umkehrschluss können also bei deren Vorliegen die leiblichen Eltern keine Rückführung des Kindes erreichen.

 

1. Familienpflege seit längerer Zeit

Familienpflege setzt voraus, dass das Kind außerhalb seiner Herkunftsfamilie bei der Pflegeperson bzw. den Pflegepersonen in familienähnlicher Weise und Unterbringung lebt. Die Familienpflege muss außerhalb des Elternhauses stattfinden, das Kind lebt also nicht bei den Eltern, sondern bei der Pflegefamilie. Es genügt jedes faktische Pflegeverhältnis familienähnlicher Art, so dass § 1632 Abs. 4 BGB weder einen Pflegevertrag voraussetzt, noch dass die Pflegeperson die nach § 44 SGB VIII notwendige Pflegeerlaubnis besitzt (vgl. BGH NJW 2001, 3373, 3338; BayObLG NJW 1984, 2168). Schließlich muss es sich in aller Regel um Vollzeitpflege handeln, nicht um bloße Tagespflege im Sinne des § 23 SGB VIII (vgl. BGH NJW 2001, 3337, 3338 f.).

Beim Zeitbegriff kommt es nicht darauf an, wie lange das Pflegeverhältnis nach den Vorstellungen der Eltern dauern soll, sondern darauf, ob das Pflegeverhältnis im Einzelfall bereits so lange gedauert hat, dass dessen Auflösung eine Gefahr für das Kindeswohl darstellen würde. Maßgebend dafür ist, inwieweit das Kind den leiblichen Eltern entfremdet ist, weil es im Pflegeverhältnis eine neue Bezugswelt gefunden und Bindungen entwickelt hat (vgl. OLG Frankfurt/M. FamRZ 2004, 720, 721). Bezugspersonen können nicht nur die Pflegeeltern selbst, sondern beispielsweise auch Pflegegeschwister, Nachbarn oder Schulfreunde sein. Da es auf die Integration des Kindes in die Pflegefamilie ankommt, ist nicht von einer bestimmten absoluten Zeitspanne auszugehen, sondern auf die kindlichen Zeitvorstellungen abzustellen, die von denen der Erwachsenen abweichen und wesentlich vom Alter des Kindes bestimmt werden (vgl. OLG Hamm FamRZ 2007, 659, 660). Für das jüngere Kind kann eine halbjährige Familienpflege im Verhältnis zur bisherigen Lebensdauer eine „längere Zeit“ bedeuten, während es bei einem älteren Kind anders sein kann, weil dieser Zeitraum als weniger lang empfunden wird und weniger einschneidend auf die Kindesentwicklung einwirkt (OLG Celle FamRZ 1990, 191). Dem Normzweck entsprechend bleibt auch eine längere Pflegedauer dann unberücksichtigt, wenn sich das Kind nicht eingelebt hat.

2. Wegnahmewille der Eltern

Das Kind soll vor einer Wegnahme durch die leiblichen Eltern geschützt werden. Erforderlich ist, dass den Eltern der Herausgabeanspruch zusteht, sie also das uneingeschränkte Personensorgerecht, zumindest das Aufenthaltsbestimmungsrecht, haben (BayObLG FamRZ 1990, 1379, 1382).

§ 1632 Abs. 4 BGB stellt darauf ab, dass „die Eltern das Kind von der Pflegeperson wegnehmen wollen“. Die Verbleibensanordnung ist deshalb schon bei einer ernstlichen Ankündigung des Herausgabeverlangens zulässig, nicht erst bei dessen gerichtlicher Geltendmachung. Das Recht aus § 1632 Abs. 4 BGB bezweckt nur den Schutz vor der dauerhaften Wegnahme des Kindes, faktisch also vor einer Beendigung des Pflegeverhältnisses. Das Begehren der Eltern kann daher nach einem – auch dauerhaft wiederkehrenden – Umgangsrecht von den Pflegeeltern nicht nach § 1632 Abs. 4 BGB angegriffen werden.

3. Gefährdung des Kindeswohls

Weitere Voraussetzung für die Verbleibensanordnung ist, dass durch die Wegnahme das Wohl des Kindes gefährdet würde. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bewertung ist derjenige der Entscheidung über das Herausgabeverlangen der Eltern.

a) Entscheidungsmaßstab

Der Gefahrbegriff entspricht dem des § 1666 BGB. Erforderlich ist eine begründete gegenwärtige Besorgnis, dass eine Änderung des Aufenthalts, der Betreuung und Erziehung zu schweren und nachhaltigen körperlichen oder seelischen Schäden beim Kind führen kann (BVerfG FamRZ 2006, 1593, 1594; OLG Hamm FamRZ 2004, 1396). Ob durch die Wegnahme des Kindes das Kindeswohl gefährdet ist, hängt von einer Gesamtabwägung zwischen den Kindesinteressen, den Rechten der Pflegeperson und denen der leiblichen Eltern ab (BVerfG NJW 2005, 1765, 1766; FamRZ 2004, 771, 772). Im Rahmen dieser Abwägung muss das Kindeswohl letztlich bestimmend sein (BVerfG FamRZ 2005, 1765, 1766; FamRZ 2004, 771). Maßgebend sind das Ausmaß der Integration des Kindes in der Pflegefamilie und der Umfang der Gefahr seelischer Entwurzelung beim Kind durch seine Rückkehr zu den leiblichen Eltern (OLG Hamm FamRZ 2004, 1396). In die Abwägung sind vor allem die in der alten Fassung des § 1632 Abs. 4 BGB noch genannten Kriterien – danach konnte eine Verbleibensanordnung nur ergehen, wenn außer der Gefährdung des Kindeswohls die weiteren Voraussetzungen des § 1666 BGB vorlagen – einzubeziehen (BT-Drs. 13/4899 S. 96).

Dass die Trennung von den Pflegeeltern eine erhebliche psychische Belastung für das Kind darstellt, reicht für eine Verbleibensanordnung nicht aus, da sonst die Zusammenführung von Kind und Eltern immer dann ausgeschlossen wäre, wenn das Kind in den Pflegeeltern seine „sozialen Eltern“ gefunden hat (BVerfG FamRZ 2006, 1593, 1594; NJW 2005, 1765, 1766). Eine Verbleibensanordnung ist nicht bereits deshalb angebracht, weil das Kind bei den Pflegeeltern gut versorgt wird (BayObLG FamRZ 1984, 817, 818). Auch der Umstand, dass die Pflegeeltern möglicherweise besser zur Betreuung des Kindes geeignet sind als die Eltern, rechtfertigt für sich genommen nicht den Erlass einer Verbleibensanordnung.

b) Einzelfallentscheidung

Ob die Wegnahme von der Pflegeperson das Wohl des Kindes gefährden würde, muss in jeden Einzelfall gesondert entschieden werden. Dies kann jeweils grundsätzlich nur mit Hilfe eines psychologischen Gutachtens geschehen (OLG Frankfurt/M. FamRZ 2002, 1277, 1278; FamRZ 1983, 297, 298). Es reicht nicht aus, zur Begründung einer Verbleibensanordnung allein auf allgemeine Erkenntnisse der psychologischen Wissenschaft zu verweisen (vgl. BayObLG FamRZ 1991, 1080, 1082; OLG Frankfurt/M.  FamRZ 1983, 297, 298). Das Abweichen von einem solchen fachpsychologischen Gutachten bedarf einer eingehenden Begründung und des Nachweises eigener Sachkunde des Gerichts (BverfG NJW 1999, 3623, 3624). Der Rückgriff auf ein Gutachten kann in Ausnahmefällen entbehrlich sein, zum Beispiel wenn sich die Gefährdung des Kindeswohls bereits daraus ergibt, dass der Minderjährige die Rückkehr zu seinen Eltern entschieden ablehnt (BayObLG FamRZ 1998, 1040, 1041 f.).

c) Kriterien

Wenn auch die Gerichte in jedem Einzelfall eine gesonderte Abwägung vorzunehmen haben, lassen sich doch gewisse allgemeine Kriterien aufstellen, die bei dieser Abwägung zu berücksichtigen sein können. So spielen beispielsweise die körperliche und geistige Verfassung des Kindes, seine Bindungen an die bisherigen Bezugspersonen sowie die Persönlichkeit der bisherigen und der möglichen künftigen Bezugspersonen eine Rolle (vgl. OLG Karlsruhe FamRZ 2004, 722; OLG Hamm FamRZ 2007, 659, 660).

Persönliche Defizite der leiblichen Eltern können also ebenso wie Mängel des vorgesehenen Lebensbereichs für den Erlass einer Verbleibensanordnung sprechen. Derartige Defizite sind nicht nur dann von Bedeutung, wenn sie so schwerwiegend sind, dass sie die Erziehungseignung dieser Personen völlig ausschließen, sondern auch unterhalb dieser Schwelle (vgl. OLG Frankfurt/M. FamRZ 1983, 1163, 1164). Berücksichtigt werden können zum Beispiel eigene psychische Probleme der leiblichen Eltern (BayObLG NJW 1988, 2381, 2382) oder deren Überforderung infolge der Betreuung anderer Kinder (BayObLG DAVorm. 1985, 335, 336; OLG Schleswig DAVorm. 1980, 574). Gegen eine Herausgabe spricht es, wenn sich die leiblichen Eltern und das Kind einander entfremdet haben, weil sich die Eltern jahrelang nicht um das Kind gekümmert haben (vgl. BayObLG FamRZ 1974, 137, 139). Auch Defizite anderer Personen als der leiblichen Eltern können einer Herausgabe entgegenstehen, wenn das Kind ihnen ausgesetzt wäre, wie z.B. im Falle drohender Misshandlungen durch den Stiefvater (vgl. OLG Frankfurt/M. NJW 1981, 2524). Ein starkes soziales Gefälle zwischen den leiblichen und den Pflegeeltern reicht dagegen für sich allein genommen nicht aus. Zu berücksichtigen sind umgekehrt auch entsprechende Defizite der bisherigen Pflegeeltern (vgl. OLG Brandenburg FamRZ 2007, 851, 852 f.).

Eine starke Bindung des Kindes an die Pflegefamilie spricht grundsätzlich für eine Verbleibensanordnung (vgl. OLG Karlsruhe FamRZ 2004, 722; OLG Naumburg FamRZ 2002, 1274). Dagegen kann es dem Kindeswohl und der angemessenen Berücksichtigung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG entsprechen, eine Verfestigung des Pflegeverhältnisses zu vermeiden, insbesondere wenn dies zu einer Entfremdung des Kindes von der Herkunftsfamilie führt und eine Rückführung dorthin immer unwahrscheinlicher macht (vgl. BVerfG FamRZ 2004, 771, 772; BVerfG NJW 1985, 423, 424).

Eine wichtige Rolle spielt der Wille des Kindes (vgl. OLG Celle FamRZ 2002, 1356, 1357; OLG Frankfurt/M. FamRZ 2002, 1277, 1278), und zwar umso stärker, je älter das Kind ist.

Bei der Kindeswohlprüfung sind auch Anlass und Dauer der Familienpflege zu berücksichtigen. Bzgl. des Anlasses der Familienpflege ist darauf abzustellen, aus welchen Gründen das Kind in Pflege gegeben worden ist. Handelten die Eltern in einer unverschuldeten Notsituation, bedingt etwa durch Krankheit, unzulängliche Wohnverhältnisse oder Zwang zu ganztägiger Berufstätigkeit oder aus sonst nachvollziehbaren Gründen, so wird das Vorliegen der Voraussetzungen einer Kindeswohlgefährdung weniger leicht zu bejahen sein als in solchen Fällen, in denen das Kind aus Gleichgültigkeit, weil es lästig wurde oder aus sonst missbilligenswerten Erwägungen in Pflege gegeben wurde.

Eine entscheidende Rolle bei der Abwägung spielt die Dauer des Pflegeverhältnisses. Je länger das Pflegeverhältnis bestanden hat, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind zu den Pflegepersonen Bindungen aufgebaut hat, deren Auflösung zu psychischen Problemen führen kann (vgl. OLG Frankfurt/M. FamRZ 2004, 720). Dabei sind die ersten Lebensmonate (6–12 Monate) von entscheidender Bedeutung für den Aufbau der primären Bindung des Kindes (vgl. OLG Frankfurt/M. FamRZ 2004, 720, 721).

Als kindeswohlgefährdende Kriterien sind auf Seiten des Kindes beispielsweise psychosomatische Beschwerden, autoaggressive Verhaltensweisen, Verhaltens- und Leistungsstörungen, sozialer Rückzug, Störung der emotionalen Beziehungen, massiver Loyalitätskonflikt oder Traumatisierung zu berücksichtigen.

 

IV. Zusammenfassung

Die zentrale gesetzliche Regelung zur Rückführung eines Pflegekindes in seine Ursprungsfamilie stellt § 1632 Abs. 4 BGB dar. Dort wird zwar nicht ausdrücklich festgelegt, in welchen Fällen eine Rückführung stattfinden kann. Umgekehrt ergibt sich aber aus der Vorschrift, unter welchen Voraussetzungen die Pflegeeltern eine Verbleibensanordnung erwirken können.

Damit eine Verbleibensanordnung getroffen werden kann, müssen mehrere Voraussetzungen vorliegen.

Das Kind muss seit längerer Zeit in Familienpflege leben, wobei jedes faktische Pflegeverhältnis familienähnlicher Art ausreicht und das Pflegeverhältnis im Einzelfall bereits so lange gedauert haben muss, dass dessen Auflösung eine Gefahr für das Kindeswohl darstellen würde. Die Verbleibensanordnung ist schon bei einer ernstlichen Ankündigung des Herausgabeverlangens zulässig, nicht erst bei dessen gerichtlicher Geltendmachung.

Weitere Voraussetzung für die Verbleibensanordnung ist, dass durch die Wegnahme das Wohl des Kindes gefährdet würde. Ob eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, muss von den Gerichten jeweils in jedem Einzelfall gesondert geprüft werden. Dennoch lassen sich gewisse allgemeine Kriterien aufstellen, die bei dieser Abwägung zu berücksichtigen sein können. So spielen beispielsweise die körperliche und geistige Verfassung des Kindes, seine Bindungen an die bisherigen Bezugspersonen sowie die Persönlichkeit der bisherigen und der möglichen künftigen Bezugspersonen eine Rolle.